"Wir müssen die Potenziale des Ganztags nutzen"

© Christoph Wehrer / (c) Stiftung Kinder forschen
An einem Fahrrad wird gemeinsam erforscht, wie Licht selbst erzeugt werden kann.

Wird der Ganztag als Ort der Bildung betrachtet, kann er den Unterricht entlasten und zu mehr Chancengerechtigkeit führen. Wird er weiter nur als Betreuungsangebot gesehen, verschenken wir viel Potenzial, um Schülerinnen und Schüler zu fördern.

Die Grundschule ist in Not. So bedrückend dies klingt, so wenig neu ist die Erkenntnis. Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021 des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen  zeigen, dass sich die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in der vierten Klasse deutlich verschlechtert haben. Jeder fünfte Viertklässler hat Probleme beim Lesen und Rechnen, fast jeder dritte in der Rechtschreibung. Der kommende Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung kann hier ein Schlüssel zur ganzheitlichen Bildung sein. Dazu muss der Ganztag nicht als Betreuungsangebot, sondern als Bildungsort gesehen werden. Ein Ort, an dem Grundschulkinder dringend benötigte Fähigkeiten für ein selbstbestimmtes und mündiges Leben entwickeln können.

Die Bildungsschere geht weiter auseinander

Die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler nimmt zu, der individuelle Förderbedarf steigt und die Bildungsschere geht laut IQB-Bericht weiter auseinander. Die Pandemie, einhergehend mit Schulschließungen und Homeschooling, hat die Lage nur verschlechtert. Ob Schülerinnen und Schüler zuhause Unterstützung erhalten oder nicht, macht plötzlich einen noch größeren Unterschied. Für Lehrkräfte wird es immer schwerer, ausreichend differenzierend auf die individuellen Bedürfnisse jedes Kindes einzugehen. Dadurch können Schülerinnen und Schüler oft nicht in dem Maße gefördert werden, wie sie es heute und in Zukunft bräuchten. Bildungsforscherinnen und -forscher sind sich einig, dass sich die derzeitigen Mängel nicht nur auf die Kinder und ihren Schulerfolg selbst auswirken, sondern langfristig auf die gesamte Gesellschaft und die Wirtschaft. Nach Angaben der Kultusministerien der Länder waren Ende 2022 mehr als 12.000 Stellen unbesetzt  – und die Prognosen des kommenden Lehrkräftemangels sehen schlecht aus. Die Grundschülerinnen und -schüler von heute werden mit den mangelnden Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten nicht diesen sich weiter abzeichnenden Fachkräftemangel abmildern können. Der Bildungsbereich warnt zudem davor, dass sich große Teile einer Generation nicht selbstständig informieren oder fortbilden können und dadurch in ihrem beruflichen Erfolg und ihrer gesellschaftlichen Teilhabe begrenzt sein werden.

Bildung ist mehr als das Erreichen von Kompetenzstufen. Bildung ist Welterkundung, ist Sich-Selbst-Erkunden.

Michael Fritz

Die bisherigen Bemühungen der Politik, die Grundschulmisere abzumildern, reichen nicht aus. Sie funktionieren vielleicht auch nicht, weil sie nach wie vor den Fokus vor allem auf die Lese-, Rechen- und Schreibkompetenz legen. Dies wird den kindlichen Bedürfnissen nach einer ganzheitlichen Bildung nicht gerecht. Bildung ist mehr als das Erreichen von Kompetenzstufen – auch wenn Lesen, Rechnen und Schreiben natürlich unglaublich wichtig sind. Bildung ist Welterkundung, ist Sich-Selbst-Erkunden.

 

„Die Potenziale des Ganztags sollten wir dringend nutzen.“

Die Ganztagsbildung kann diese ganzheitliche Bildung schaffen und dazu einen großen Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit leisten. Über das forschend-entdeckende Lernen im MINT-Bereich – also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – können auch Kinder aus bildungsfernen Familien früh Erfolge erleben. Diese sind wichtig, damit die Schülerinnen und Schüler einen positiven Blick auf das eigene Lernen und den kommenden Bildungsweg behalten. Vor allem Kinder, die dies in ihrem familiären Umfeld nicht bekommen, können zusätzliche fördernde Angebote erhalten. Herkunftsbedingte Nachteile können so ausgeglichen werden.

Für diese nachhaltigen Erfolgserlebnisse braucht es reale Orte und echte Situationen, in denen sich die Kinder eigene Ziele setzen können. Sie brauchen Aufgaben, an denen sie ihre fachlichen Kompetenzen praktisch an Problemen umsetzen können, die für sie relevant sind. Die MINT-Bildung fördert einen konstruktiven Umgang mit Veränderung und Kreativität, stärkt die Zusammenarbeit und Kommunikation und fördert kritisches Denken. Mit guten, zielgerichteten Angeboten können auch Mädchen früh für MINT-Disziplinen begeistert werden – diese Förderung kommt im Unterricht oft nach wie vor zu kurz.

Lernen an „echten Problemen“

© Christoph Wehrer / (c) Stiftung Kinder forschen
Kinder beim Entdecken und Forschen mit Wasser.

Der Ganztag kann viel leisten, wenn er gesehen wird als Ort mit vielfältigen Bildungs- und praktischen Lernangeboten. Im Ganztag könnte ein Seifenkistenrennen geplant werden. Die Aufgabe an die Kinder ist, sich in Gruppen zusammenzufinden und einen Plan zu erstellen, das passende Material zu finden und ein Gefährt zu bauen. Und bei Bedarf können sie sich Unterstützung von Spezialistinnen und Spezialisten dazu holen – das könnten Eltern, Lehrkräfte oder ältere Schülerinnen und Schüler sein, die den Kindern helfen, ihr Ziel zu erreichen. Es könnte auch eine Fahrradwerkstatt einbezogen werden, um mit Expertinnen und Experten zum Thema Radlager zu sprechen. So ein Projekt stellt den Kindern echte Herausforderungen. Sie setzen sich eigenständig ein Ziel und arbeiten gemeinschaftlich daran. Sie lernen und erforschen, was funktioniert und was nicht. Und am Ende steht der eigene Erfolg, wenn die Kiste rollt.

Pflicht-Unterricht und das freiwillige Ganztagesangebot sollten komplementär verzahnt werden. Grundschullehrkräfte könnten im Unterricht dringend benötigte Fähigkeiten und Wissen passend zum "echten Problem" vermitteln: Wann wurde das erste Rad erfunden? Welche Formen rollen noch? Wie kann ich Längen für die Seifenkiste messen und wie kann ich das Tempo berechnen, mit dem das Gefährt den Hang hinunterrollt? Welche Sachbücher sind hilfreich und wo finden sich Informationen im Internet? Können Kinder für etwas begeistert werden, lesen sie dazu auch lieber etwas. Das gemeinsame Forschen und Entdecken, die Interaktion der Kinder untereinander und mit Fachkräften, fördern die sprachliche Weiterentwicklung.

Der Rechtsanspruch auf Ganztag muss mit Leben gefüllt werden

Solche realen Herausforderungen in der aktiven Auseinandersetzung mit Natur und Technik sind ideal gestaltbar. Dazu sollten auch außerschulische Lernorte einbezogen werden. Das kann etwa die oben beschriebene Fahrradwerkstatt sein, wo die Kinder lernen, Reifen zu wechseln oder ihre Fahrräder zu reparieren, oder beispielsweise Bauernhöfe, auf denen Kinder lernen, wie viel Wasser für die Felder benötigt wird. Außerschulische Bildungsorte sind unglaublich vielfältig und es gibt sie überall. Es ist wichtig, für die Kinder relevante Lernorte zu finden, die in ihrer Region, in ihrer Stadt oder ihrem Stadtteil liegen. Und diese ganz praktisch in das Ganztagesangebot einzubinden.

Wir begrüßen sehr, dass auch Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger die Öffnung von Schulen in Bezug auf außerschulische Lernorte unterstützt. Wir möchten ein Weiterdenken und vor allem rechtzeitiges Handeln in der Politik anregen: Denn der Rechtsanspruch auf den Ganztag muss nun mit Inhalt gefüllt werden: Es braucht bundeslandübergreifende Qualitätsstandards im Ganztag. Es braucht pädagogisch qualifizierte Erwachsene. Es braucht verlässliche Vereinbarungen mit außerschulischen Lernorten und externen Expertinnen und Experten. Es braucht Ganztagsräume mit Werkstätten und Laboren. Kommunen, Länder und Bund müssen hierzu noch vieles klären – und vor allem müssen sie jetzt mit den Vorbereitungen beginnen. Wir brauchen einen Ganztag als Bildungsort, denn jedes Kind hat ein Recht auf die beste Bildung und eine gerechte Chance auf Teilhabe. Wir können und dürfen kein Kind zurücklassen.

 

Hinweis: Eine Kurzfassung des Textes ist im didacta Magazin (01/2023) erschienen.

 

Portrait von Michael Fritz
Autor/in: Michael Fritz

Von 2013 bis 2024 war ich Vorstand der gemeinnützigen Stiftung Kinder forschen, die sich für gute Bildungschancen aller Mädchen und Jungen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sowie in der Bildung für nachhaltige Entwicklung einsetzt. Als Vorstandsvorsitzender habe ich vor allem die wirksame Umsetzung der strategischen Ziele der Stiftung und damit die inhaltliche, pädagogische und wissenschaftliche Seite der Stiftungsarbeit im Blick.

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