"Ungleichheiten früh erkennen und ihnen entgegentreten"

Prof. Dr. Kai Maaz ist Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) und Mitautor des Berichts „Bildung in Deutschland“, der alle zwei Jahre erscheint. Im Interview schildert er, welchen Einfluss die Familie auf die Lernerfolge des Kindes hat und wie Kitas zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen können.

Sie arbeiten und forschen seit über zehn Jahren zum Thema Bildung. Inwieweit hat sich aus Ihrer Sicht die frühkindliche Bildungslandschaft in dieser Zeit verändert?
Der Bereich der frühen Bildung ist in den letzten Jahren expandiert – bezogen auf den Neubau und die Ausstattung von Einrichtungen. Wo wir noch nicht so viel Fortschritt sehen, ist in der Priorisierung der Aufgaben, die in der frühen Bildung wichtig sind. Beim Dreiklang aus Betreuung, Erziehung und Bildung war die Bildung lange Zeit eher randständig. Das ist besser geworden, wird aber noch nicht mit der benötigten Konsequenz und Ernsthaftigkeit durchgesetzt.
Kinder freuen sich über Bildungsangebote, sie wollen lernen.
Kai Maaz, Bildungsforscher
Was braucht es noch?
Es sollte in der Aus- und Weiterbildung von Erzieher:innen Angebote geben, die Bildung als Kernthema haben. In vielen Kitas gibt es schon Bildungsangebote, aber man könnte beispielsweise durch Multiplikator:innen noch mehr Expertise und Kernkompetenzen in die Einrichtungen tragen, etwa durch Sprach- und Inklusionspädagog:innen oder auch Lesepat:innen. So wie in den Schulen, wo das Personal nicht nur Lehrpersonen sind, sollte es in den Kitas nicht nur Erzieher:innen, sondern multidisziplinäre Teams geben.
Genauso wichtig ist das Bewusstsein, dass frühe Bildung Kitakinder auf die Schule vorbereitet. Hier nehme ich oft wahr, dass diese Notwendigkeit nicht gesehen wird. Zwar gibt es in den Bundesländern Bildungspläne für die Kitas, diese werden aber nicht immer umgesetzt. Hier würde es helfen, dem Kitapersonal die Sorge zu nehmen, dass den Kindern damit ihre Individualität und Freiheit in der Entwicklung geraubt werden. Denn Kinder freuen sich über Bildungsangebote, sie wollen lernen. Zwischen Kitas und Grundschulen benötigen wir einen besseren Austausch, damit Erzieher:innen und Lehrkräfte mehr Verständnis für die Arbeit der jeweils anderen bekommen und voneinander lernen.
"Forscht mit!" zum Thema "Wie viel ist denn das?"

Das Interview ist in der "Forscht mit!"-Ausgabe Nr. 4/2024 erschienen.
Wie viele Autos fahren in einer Stunde an der Kita vorbei? Welche Anzahl an Murmeln befindet sich im Becher? Sind meine Schuhe größer oder kleiner als die der anderen? Im Alltag und beim Spielen begegnen den Kindern unzählige Anlässe zum Messen, Schätzen und Vergleichen. Wie sie dies aufgreifen und dazu mit den Mädchen und Jungen forschen können, erfahren Erzieher:innen und Grundschullehrkräfte in unserer pädagogischen Fachzeitschrift „Forscht mit!“. So viel Spaß kann Mathe machen!
Im Juni stellten Sie den Nationalen Bildungsbericht für 2024 vor. Demnach hängt der Bildungserfolg in Deutschland stark von der sozialen Herkunft ab. Welche Unterschiede werden hier besonders deutlich?
Die Bildungsergebnisse von Kindern und Erwachsenen hängen stark vom Bildungsniveau und beruflichen Status der Eltern ab. Also welchen Zugang zu Bildung sie haben, welche Zertifikate und Kompetenzen sie erworben haben und welchen Erfolg sie im Berufsleben erleben, einschließlich Einkommen und ehrenamtlichem Engagement. Die Unterschiede sind sehr früh sichtbar. In den Kitas sind dies vor allem mangelnde sprachliche, aber auch mathematische Kompetenzen. Manchmal fehlt es Kindern auch an sozialen Umgangsformen oder ganz basalen Fertigkeiten, etwa wie sie den Stift halten.
Wie stark ist der Einfluss der Kita auf den Bildungsweg von Kindern?
Durch Längsschnittstudien sehen wir mittlerweile sehr klar, dass die Kompetenzen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft in den ersten drei bis sechs Jahren auseinandergehen, also noch vor Schuleintritt. Insofern sind diese ersten Jahre entscheidend, denn hier lässt sich noch rechtzeitig diagnostizieren, eingreifen und fördern. Die Schule kann das später nicht auffangen oder diese Unterschiede zurückbauen. Deshalb: Wenn wir nachhaltig Bildungsgerechtigkeit erhöhen und Kompetenzvielfalt stärken wollen, funktioniert das nur zusammen mit Angeboten in der frühen Bildung.
Was können Kitas für mehr Bildungsgerechtigkeit tun?
Die Frage ist eher: Wann sollten wir eingreifen, um diesen Ungleichheitseffekt abzubauen? Dieser entsteht nicht in erster Linie in den Bildungseinrichtungen, sondern in anderen Lebensbereichen. Unser Bildungssystem bietet die große Chance, alle Kinder zu erreichen, aber es wird langfristig nur funktionieren, wenn wir auch die Bereiche außerhalb mitdenken, also Familien. Eine gute Idee für Kitas ist es, mit Familienzentren zusammenzuarbeiten. Es ist wichtig, den Erziehungsberechtigten zu vermitteln, dass Kinder vom Besuch einer Kita durch die vielen Spiel- und Lernerfahrungen profitieren. Ein Kind, das täglich mit anderen Kindern interagiert, hat andere Kompetenzen als eines, das nur mit der eigenen Familie zusammen ist. Auf allen Entwicklungsstufen gibt es hier positive Effekte.
Kitas brauchen genügend gut ausgebildetes Personal, um Bildungsaufgaben zu bewältigen. Sie müssen aber nicht alles allein lösen.
Kai Maaz, Bildungsforscher
Was könnte noch helfen?
Wir müssen Ungleichheiten früh erkennen und ihnen entgegentreten. In einigen Bundesländern, z. B. Hamburg, finden während der Kitazeit Erhebungen zur Sprache der Kinder statt. Tun sich Sprachdefizite auf, setzt eine verpflichtende Förderung ein. In der Grundschule könnte man den einzelnen Lernstand erheben, um zu schauen, wie sich Kinder entwickeln und ob sie eine Förderung benötigen. Die Kitas brauchen genügend gut ausgebildetes Personal, um die Bildungsaufgaben auch zu bewältigen. Sie müssen aber nicht alles allein lösen. Es gibt viele Expert:innen, die unterstützen können. Wichtig ist, dass es überhaupt Unterstützungsangebote für Kinder gibt – egal, ob innerhalb oder außerhalb der Kita.