„Es fehlt in unserem Land an Leidenschaft für Kinder.“
Dr. Ilse Wehrmann ist Diplom-Sozialpädagogin, Erzieherin und freie Beraterin im Bereich frühkindlicher Bildung. Sie arbeitet seit über 50 Jahren in der frühen Bildung und hat mehrere Bücher verfasst. Im Interview spricht sie über den „Kita-Kollaps“ und hält ein Plädoyer für eine leidenschaftliche Bildungspolitik.
Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Der Kita-Kollaps“. Ist die Lage wirklich so schlimm?
Es ist sogar noch schlimmer, so ist jedenfalls mein Eindruck. Bildung hat keine Priorität mehr. Dass jetzt mehr als 400.000 Kita-Plätze fehlen, ist ein Skandal. Frühe Bildung muss dringend ein zentrales Thema in der Politik werden.
Derzeit sind ja nicht nur die fehlenden Kita-Plätze ein Problem, sondern auch Fachkräftemangel.
Die aktuelle Situation ist ja nicht spontan aufgekommen. Den gesetzlichen Anspruch auf einen Kita-Platz gibt es bereits seit 1996. Da kann es doch nicht sein, dass jetzt so viele Plätze und Fachkräfte fehlen. Es wurden die Kapazitäten in der Ausbildung immer mehr zurückgefahren und es mangelt an einer grundlegenden Wertschätzung für die Mitarbeitenden in den Einrichtungen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die gesellschaftliche Bewertung von Pädagog:innen verändert, dass ihre enorm wichtige Arbeit gesehen und wertgeschätzt wird. Und ich spreche hier nicht nur in Richtung der Eltern, sondern insbesondere in die der Politik und der gesamten Gesellschaft. Da muss ein Ruck durch die Gemeinschaft gehen. Es fehlt in unserem Land an Leidenschaft für Kinder.
„Wir müssen handeln – und zwar heute!“
Was muss jetzt getan werden, um diesen Problemen entgegenzutreten?
Wir brauchen dringend runde Tische auf kommunaler und auf Landesebene, damit Bauvorhaben für neue Kitas beschleunigt werden. Es kann nicht sein, dass bis zu 18 Behörden einem Kita-Bau zustimmen müssen. Wir sollten den Ausbildungsbereich stärken und Abschlüsse aus dem Ausland schneller anerkennen. Da gehen uns viele sehr gut geschulte Mitarbeiter:innen verloren, wenn die Prozesse so langsam sind. Wir müssen handeln – und zwar heute! Und es gibt auch Möglichkeiten, schnell Abhilfe zu schaffen, z. B. indem wir vermehrt Menschen aus anderen Disziplinen einbinden.
Wie stellen Sie sich diese Zusammenarbeit vor?
Natürlich brauchen wir immer die Erzieher:innen als Stammpersonal. Aber wir sollten erfinderischer werden. Wenn etwa Kitas und Altersheime kooperieren, schaffen wir generationenübergreifendes Lernen und Begegnungen, von denen alle profitieren. Anliegende Unternehmen können Lesepatenschaften übernehmen. Handwerker:innen oder auch Rentner:innen können mit den Kindern bestimmte Projekte durchführen, für die sie Expert:innen sind – etwa Vogelhäuser bauen oder gärtnern, im Bau- oder Forschungsraum aushelfen oder die Außenbereiche mitgestalten. Sie können ihre Leidenschaft weitergeben und die Kinder fördern.
Forscht mit! zum Thema "Kicken, Flanken, Forschen“
Das Interview ist in der "Forscht mit!"-Ausgabe Nr. 2/2024 erschienen.
In diesem Jahr richtet Deutschland die Europameisterschaft der Männer aus – ein perfekter Anlass, um sich auch in Kita, Hort und Grundschule dieser weltweit sehr populären Disziplin zu widmen. Aus welchen geometrischen Formen besteht ein Spielfeld? Welche Technik hilft, den Ball bestmöglich vorwärtszubewegen? Wozu sind Spielregeln da und was haben sie mit Fairness und Gerechtigkeit zu tun? Fußball ist nicht nur ein Sport, der Spaß macht, sondern darüber hinaus ein Thema, zu dem sich wunderbar forschen lässt. Wie sie das tun können, erfahren Erzieher:innen und Grundschullehrkräfte in unserer pädagogischen Fachzeitschrift „Forscht mit!“.
Sie haben Kitas weltweit besucht und über die Qualität in der frühen Bildung geforscht. Was ist Ihnen in anderen Ländern besonders aufgefallen?
Beinahe jede Kita, die ich auf meinen Reisen gesehen habe, müsste nach deutschen Sicherheitsmaßstäben direkt geschlossen werden. Aber die positive Haltung zu den Kindern war überall beispiellos. Die Kitas waren in die Stadtteile eingebunden, es gab nachbarschaftliche Unterstützung, Second-Hand-Angebote für Bücher und Kleidung, die direkt an die Kita angedockt waren. Und man forscht überall mehr als bei uns. Das wurde in Deutschland verstärkt abgebaut. Bei Forschung und Qualifizierung sollten wir das Ruder dringend wieder rumreißen.
Sie fordern in diesem Rahmen auch eine Art Kita-TÜV. Was stellen Sie sich darunter vor?
Ein solches Angebot würde regelmäßig im laufenden Betrieb beobachten, wie die pädagogischen Fachkräfte mit den Kindern umgehen, wie sie die Konzepte umsetzen und wie das Angebot an Lernmöglichkeiten für die Kinder aussieht. Durch eine solche Qualitätssicherung erhalten die pädagogischen Fachkräfte auch Anregungen für ihren Alltag in der Kita.
„Die positive Haltung zu den Kindern war in den Kitas, die ich weltweit gesehen habe, beispiellos.“
Weiterbildung und Qualifizierungsangebote fallen in Kitas oft als Erstes weg, wenn Kapazitäten knapp sind …
Und gerade das ist falsch. Wir müssen den pädagogischen Fachkräften mehr Angebote machen. Die Erzieher:innen brauchen diese Qualifizierungen, sie brauchen den Blick über den Tellerrand und den Austausch mit Kolleg:innen aus anderen Einrichtungen. Einen Fortbildungstag pro Monat halte ich eigentlich für sinnvoll.
Insgesamt ist die Perspektive recht düster. Haben Sie Hoffnung, dass sich in Zukunft etwas ändern wird?
Es gibt Anzeichen für Veränderungsbereitschaft in der Gesellschaft. Wir sollten gemeinsam für bessere Rahmenbedingungen kämpfen und uns für die gesellschaftliche Anerkennung des Erzieher:innenberufs einsetzen. Dafür brauchen wir alle: Frühe Bildung muss die Toppriorität sein – insbesondere auch für die Politik. Wir sollten hierfür gemeinsam auf die Straße gehen und demonstrieren: Eltern, Kita-Personal und auch Unternehmen, denn für diese ist eine verlässliche Betreuungssituation und gute frühe Bildung ja auch entscheidend.
Der Kita-Kollaps
Prof. Dr. Ilse Wehrmann analysiert in ihrem aktuellen Buch die Ursachen der Kita-Misere und deckt Versäumnisse der vergangenen Jahre auf. Sie zeigt darin aber auch Perspektiven und einen Hoffnungsschimmer.
Wehrmann, Ilse (2023). Der Kita-Kollaps: Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss, Freiburg: Verlag Herder.