"Zwischen Bewegung und Bildung steht die Beziehung"

Zwei Kinder rennen eine Treppe hinunter.
© Christoph Wehrer
Kinder sind ständig in Bewegung.

Prof. Dr. Renate Zimmer ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Sportwissenschaft. Sie forscht zur Verbindung von Bildung und Bewegung und legt ihren Fokus auf frühkindliche Entwicklung. Im Interview erzählt sie, was sie daran fasziniert und warum Bäume eine spannendere Herausforderung als Bildschirme sind.

Bild von Prof. Dr. Renate Zimmer
© Hans Zimmer
Prof. Dr. Renate Zimmer

Was fasziniert Sie an Körperkraft und Bewegung?

Wenn ich ein zweijähriges Kind beobachte, sehe ich in seinem Verhalten, wie es in Bewegung denkt. Es experimentiert und erkundet die Welt, es macht sie sich zu eigen: mit seinem Körper und seinen Bewegungen. Damit verändert es die Welt, aber auch sich selbst. Das hat mich fasziniert, seit ich mit Kindern arbeite.

Was haben Bewegung und Bildung miteinander zu tun?

Zwischen Bewegung und Bildung steht etwas Wichtiges: die Beziehung. Ein Kind schafft mit seinem Körper Beziehungen zu seiner Umwelt. Viele Bildungsprozesse entstehen durch Selbsterfahrung. Wie wirke ich auf meine Umwelt ein? Welche Konsequenzen hat das?

Kinder erkennen, vergleichen und strukturieren ihre Umwelt.

Prof. Dr. Renate Zimmer

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kinder sind fasziniert vom Ballspielen. Dabei machen sie physikalische Erfahrungen: Durch Bewegung erkennen sie, wann, warum und wie ein Ball springt, rollt oder fliegt und wie sie dies selbst beeinflussen können. Sie erleben sich als selbstwirksam. Gleichzeitig laufen kognitive Prozesse ab: Kinder erkennen, vergleichen und strukturieren so ihre Umwelt.

Wie entsteht dabei Bildung?

Bildung kann man als einen Prozess verstehen, in dem alle Kräfte eines Menschen angeregt werden, damit sich diese in der Aneignung der Welt entfalten können. Das passiert, wenn Kinder sich aktiv mit der Welt auseinandersetzen. Erwachsene sollten das Kind darin begleiten, seine Tätigkeiten aufgreifen, wertschätzen und unterstützen.

Wie würde das im Alltag in Kita oder Grundschule funktionieren?

Zum einen braucht es ausreichend Raum und eher kleine Gruppen. Pädagogische Fach- und Lehrkräfte geben Anregungen und erweitern so die Erfahrungen der Kinder. Sie unterstützen sie in ihrem Bedürfnis nach entdeckendem und forschendem Lernen. Kinder erfahren physikalische Phänomene, wenn sie ihre Handlungen variieren. So sind Begriffe wie Schwung, Gleichgewicht, Beschleunigung oder Schwerkraft unmittelbar an das eigene Tun gebunden. Sie werden nur über Bewegungen beim Schaukeln, Rutschen, Balancieren, Klettern, Rollen, Springen gewonnen.

Was bedeutet das für die geistige Entwicklung der Kinder?

Bewegungssituationen beinhalten psychische Herausforderungen: Kinder lernen, sich einzuschätzen und mit Risiken umzugehen. Sie erleben, dass sie selbst imstande sind, etwas zu leisten. Solche Selbstwirksamkeitserfahrungen bilden die Basis für ein positives Selbstkonzept. Das ist die Grundlage für eine gesunde psychische Entwicklung.

Kinder sind unterschiedlich und wir sollten ihre Potenziale erkennen.

Prof. Dr. Renate Zimmer

Wie bewerten Sie die steigende Bildschirmzeit von Kindern und welche Auswirkungen sehen Sie?

Das betrachte ich mit sehr großer Sorge. Kinder werden heute in eine Welt der Medien hineingeboren, die vorwiegend im Sitzen konsumiert werden. Bei Heranwachsenden sind Knochen, Muskeln und Gelenke noch nicht ausgebildet. Häufiges Sitzen hat in dieser Lebensphase gravierende Auswirkungen auf den Körper, die Motorik und die gesunde Entwicklung. Außerdem fehlen Interaktionen mit anderen. Die Sprachkompetenzen der Kinder sind in Gefahr, wenn sie weniger miteinander sprechen. Das kann der Bildschirm nicht ersetzen.

Welche Rolle spielt das Alter der Kinder dabei?

Für ältere Kinder gibt es einige positive Aspekte. Sie können recherchieren, sich informieren oder mit Freundinnen und Freunden kommunizieren. Aber für Kinder bis sechs Jahre empfehle ich: Lasst den Bildschirm aus. Die Welt da draußen ist so interessant, warum müssen wir sie auf eine eindimensionale Platte zwingen? Ein echter Baum – das ist eine ganz andere Herausforderung.

Wie locken wir jüngere Kinder vom Bildschirm weg?

Indem Eltern und Bildungsinstitutionen Alternativen bieten. Die scheinbare Faszination vom Bildschirm entsteht mangels anderer Aktivitäten. Bildschirme sind nur im ersten Moment interessant. Echte Erfahrungen, bei denen wir uns selbst spüren und den eigenen Körper einsetzen, sind viel wertvoller.

Welche politischen Schritte sind notwendig, damit Bildung bewegungsorientiert wird?

Die Qualität und Struktur der Einrichtungen spielen eine Rolle. Stimmen die Rahmenbedingungen? Wie sind die Räumlichkeiten, die Fachkraft-Kind-Relation, die Verfügbarkeit von Fachkräften? Diese Faktoren stimmen aktuell nicht und das müssen wir ändern. Hinzu kommt die Prozessqualität: Wie viele Anregungen erhalten die Kinder? Wie wird Bildung umgesetzt? Wie steht es um die emotionale Ebene? Kein Kind öffnet sich und lernt gern, wenn es unsicher in seiner Beziehung zu den anderen Kindern oder den pädagogischen Fachkräften ist. Oft konzentrieren wir uns auf bestimmte Standards und das sehe ich kritisch. Kinder sind unterschiedlich und wir sollten ihre Potenziale erkennen. Das ist wichtig, wenn wir über Bildung sprechen.

"Forscht Mit!"-Ausgabe: "Ganz schön kräftig" (04/2023)

Cover der "Forscht Mit!": "Ganz schön kräftig" (04/2023)
© Stiftung Kinder forschen

Das Interview ist in der "Forscht mit!"-Ausgabe Nr. 04/2023 erschienen. Unser Körper ist ein echtes Kraftpaket und das muss er auch sein, denn wir brauchen unsere Muskeln zum Rennen, Klettern, Hüpfen oder Heben schwerer Sachen. Ohne Muskelkraft könnten wir nicht die kleinste Bewegung machen, noch nicht einmal Kauen oder mit den Augen blinzeln. „Guck mal, wie stark ich bin!“ – das sagen Kinder oft, wenn sie stolz darauf sind, eine schwere körperliche Anstrengung geschafft zu haben. Aber woher kommt unsere Körperkraft eigentlich? Und hat Stärke immer mit Muskeln zu tun? Diese Ausgabe der „Forscht mit!“ lädt dich dazu ein, gemeinsam mit den Mädchen und Jungen die eigene Kraft zu erkunden. Und wenn die eigenen Muskeln doch nicht ausreichen? Dann erforschen die Kinder verschiedene Techniken und Hilfsmittel, um ihr Ziel trotzdem zu erreichen. Im Heft findest du gute Beispiele aus der Praxis von Kita, Hort und Grundschule – von Kraft mit und ohne Muskeln.

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Portrait von Yvonne Thiele
Autor/in: Yvonne Thiele

Ich bin in der Stiftung für Kommunikation zuständig und arbeite unter anderem im Projekt "Informatik als Abenteuer" daran, dass informatische Bildung Spaß macht. Privat verlasse ich das Haus nie ohne ein Buch in der Tasche.

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