Zuversicht braucht Vorbilder

Kitaleiterin Ulrike Vogt und Michael Fritz in Weißwasser
© Pawel Sosnowski / Stiftung Kinder forschen
Mit Freude dabei für gute frühe Bildung: Ulrike Vogt, Leiterin der AWO-Kita "Waldwichtel", und Michael Fritz, Vorstandsvorsitzender Stiftung "Haus der kleinen Forscher", im Mai 2019 in Weisswasser.

Kürzlich durfte ich die AWO-Kita "Waldwichtel" im sächsischen Weißwasser besuchen. Neben vielen spannenden Situationen, in denen die kleinen Forscherinnen und Forscher ihren Fragen auf den Grund gingen, hatte ich auch die Gelegenheit, mit der Kita-Leiterin Ulrike Vogt und ihren Erzieherinnen über das, was sie und ihre Einrichtung bewegt, zu sprechen. Und davon lohnt es sich sehr, zu berichten:

Das Pädagogen-Team der Kita Waldwichtel in Weißwasser kennt sich aus mit Veränderungen: Als ihre Kita eröffnet wurde, stand sie mitten in einem Wohngebiet. Heute ist sie umgeben von jungen Bäumen. Wie kam es dazu? Im Jahr 1989 lebten mehr als 35.000 Einwohner in Weißwasser im Landkreis Görlitz, Sachsen. Nach der Wende zogen viele Menschen weg. Viele Wohnhäuser wurden nicht mehr benötigt. Ein ganzes Stadtviertel wurde abgerissen. Nur die relativ neue Kita blieb erhalten. Sie wurde und wird als Bildungseinrichtung gebraucht, auch wenn in Weißwasser derzeit nur noch knapp 16.000 Einwohner leben.

Wie gingen die Erzieherinnen mit den erlebten Umwälzungen um? Steckten sie den Kopf in den Sand? Definitiv nicht! Sie nutzten den gewonnenen Platz um die Kita und erweiterten ihren Garten, legten mit den Kindern Beete an und verbringen seither viel Zeit draußen. Mehr noch: Ein Bauwagen, der nach Umbauarbeiten vor dem Kita-Gelände verblieb, wurde von einem hilfsbereiten Unternehmer tiefer in den sprießenden Wald hinter der Kita gezogen. Die Pädagoginnen bauten ihn zu einer Waldkita aus. Dieses zusätzliche Angebot der Kita Waldwichtel wird seither von vielen Eltern und Kindern mit Freude angenommen.

Die Kinder erlebten ihre Erzieherinnen häufig als Vorbilder für einen konstruktiven Umgang mit Veränderung.

Eines Nachts wurde der zum Lernort umfunktionierte Bauwagen leider zerstört. Jugendliche aus Weißwasser zündeten ihn an. Unglücklicherweise war der Bauwagen nicht gut versichert. Die Brandschutzversicherung konnte nur einen sehr geringen Teil des Schadens ersetzen. Die Erzieherinnen und Kinder wollten ihren besonderen Lernort aber auf keinen Fall aufgeben. Also baten sie um Hilfe – und wurden von der Bereitschaft der Menschen in Weißwasser überrascht, beim Wiederaufbau mitzuhelfen. Mancher Briefumschlag mit einem 5- oder 10-Euro-Schein landete im Briefkasten der Kita. Andere spendeten Material und viele packten kräftig mit an.

Und die Kinder waren und sind immer mit dabei: Als der abgebrannte Bauwagen entdeckt wurde und alle sehr enttäuscht waren. Als besprochen wurde, wie es weitergehen könnte. Beim Spendenaufruf und beim Wiederaufbau ihres Lernorts im Wald. Sie erlebten ihre Erzieherinnen häufig als Vorbilder für einen konstruktiven Umgang mit Veränderung. Sie erfuhren, dass es sich lohnt, Lösungen auszudenken, Hilfe zu suchen und anzupacken. Diese Erfahrung wird sie prägen.

Ich vermute, dass die Kinder in der Kita Waldwichtel auch andere Reaktionen von Erwachsenen auf Veränderungen kennen. Vor allem in Weißwasser und anderen Städten in der Lausitz, wo die Menschen immer wieder erleben, dass von außen, vom Staat in ihr Leben eingegriffen wird.

Ministerpräsident Michael Kretschmer und Michael Fritz forschen gemeinsam mit Kindern
© Pawel Sosnowski / Stiftung Kinder forschen
Ministerpräsident Michael Kretschmer und Michael Fritz forschen gemeinsam mit Kindern in Weißwasser.

Das beschreibt eindrücklich der Taxifahrer, der uns zum Bahnhof in Weißwasser bringt. Er hat selbst einmal in einem der Plattenbauten nahe der Kita Waldwichtel gewohnt, die es heute nicht mehr gibt. Dorthin war er in den 80ern umgesiedelt worden, als sein Heimatdorf vom Braunkohle-Tagebau gefressen worden war. So gesehen habe der Ausstieg aus dem Braunkohle-Abbau auch sein Gutes, meint er auf meine Frage, wie die Menschen in der Region auf diese Entscheidung der Politik reagieren: Jetzt kommt kein Dorf mehr unter den Bagger. Aber das endgültige Aus für den Tagebau konfrontiert viele Menschen in Weißwasser mit der Frage, wie es nun mit ihrem Arbeitsplatz, mit ihrer Familie, mit ihrer Stadt weitergeht. Wieder einmal.

Und wieder einmal erleben Kinder, wie Menschen in ihrer Umgebung mit Veränderung umgehen. Dieses Erleben wird sie prägen. Am Verhalten ihrer Eltern und Nachbarn, ihrer Erzieherinnen und Lehrkräfte werden sie sich orientieren, wenn sie selbst in ihrem Leben vor der Herausforderung stehen werden, auf Veränderungen, mit denen sie konfrontiert sind, zu reagieren.

Ich bin froh, dass wir als "Haus der kleinen Forscher" das Pädagoginnen-Team in Weißwasser unterstützen können. Im nördlichen Landkreis Görlitz und speziell in Weißwasser begeben wir uns zusammen mit den Erzieherinnen und ihren Leitungen in 25 Modell-Kitas auf neue Wege. Gemeinsam mit weiteren je 25 Kitas voraussichtlich in Hamburg, den Regionen Herford und Lippe sowie Aalen forschen wir zur Frage, wie entdeckendes und forschendes Lernen zur Qualität in der frühen Bildung beitragen kann und wie das Thema Organisationsentwicklung von Kitas dabei unterstützen kann.

Denn wir sind davon überzeugt, dass Kitas, Horte und Grundschulen Häuser sein sollen, in denen Kinder entdeckend und forschend erfahren, dass Veränderung normal ist und wir Menschen unsere Zukunft gestalten können. Dazu brauchen sie Vorbilder, die zupacken und nicht aufgeben. Vorbilder wie die Pädagoginnen in der Kita Waldwichtel in Weißwasser.

Portrait von Michael Fritz
Autor/in: Michael Fritz

Von 2013 bis 2024 war ich Vorstand der gemeinnützigen Stiftung Kinder forschen, die sich für gute Bildungschancen aller Mädchen und Jungen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sowie in der Bildung für nachhaltige Entwicklung einsetzt. Als Vorstandsvorsitzender habe ich vor allem die wirksame Umsetzung der strategischen Ziele der Stiftung und damit die inhaltliche, pädagogische und wissenschaftliche Seite der Stiftungsarbeit im Blick.

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