Mehr als nur drüber reden: Philosophieren mit Kindern
Wochenlang waren in ganz Deutschland Schulen und Kitas geschlossen, die Rückkehr zum Alltag geht langsam voran und ist mit vielen Ausnahmen und Regeln verbunden. Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte können Kinder in dieser Zeit unter anderem mit einer Methode, die auch in der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) eingesetzt wird, unterstützen, sagt Mariel Wille. Die Diplom-Pädagogin entwickelt für das "Haus der kleinen Forscher" Fortbildungen und Materialien im Bereich BNE. Im Interview erklärt sie, wie die Methode "Philosophieren mit Kindern" funktioniert und warum sie Kindern dabei helfen kann, die vergangenen Monate aufzuarbeiten.
Mariel, fast jeder hat starke Veränderungen im Alltag hinter sich, unsere Kinder eingeschlossen. Nach und nach kehren wir nun zum gewohnten Rhythmus zurück. Warum ist es wichtig, mit den Kindern jetzt in Kitas und Schulen über die vergangenen Monate zu sprechen?
Damit die Kinder nacharbeiten können, was da eigentlich passiert ist. In der Hochzeit der Kontaktbeschränkungen mussten viele Kinder funktionieren, zum Beispiel weil ihre Familien wenig Zeit hatten. Da kann es sein, dass bei den Kindern jetzt überhaupt erst das Bedürfnis hochkommt, darüber zu sprechen. Deshalb ist es sinnvoll, die Kinder einfach mal nach ihren Ängsten und Sorgen zu fragen, damit sie lernen, damit umzugehen.
Außerdem ist ja auch noch längst nicht alles wieder normal. In der Schule sind die Klassen zum Teil weiter in Gruppen aufgeteilt, in den Kitas dürfen die Eltern das Gebäude nicht betreten und beim Einkaufen müssen wir den Mund-Nasen-Schutz tragen. Manche Kinder haben vielleicht auch Angst vor neuen Einschränkungen.
Was man jetzt nicht machen sollte – was man eigentlich nie machen sollte –, ist zu sagen: "Mach dir keine Sorgen." Das macht die Sorgen der Kinder klein.
Was wäre ein besserer Umgang?
Wir müssen als Erwachsene gute Rollenvorbilder sein. Ich darf als Erwachsene auch Angst haben, wichtig ist, wie ich damit umgehe. Erwachsene haben oft das Gefühl, dass sie den Kindern die Welt erklären sollten. Das müssen sie aber gar nicht. Im Gegenteil, es ist für Kinder toll, wenn sie mit den Erwachsenen auf Augenhöhe Informationen suchen können, zum Beispiel um rauszufinden, was ein Virus ist. Wenn ich weiß, wie etwas funktioniert, kann ich etwas tun. In diesem Fall: Händewaschen, bei Schnupfen zu Hause bleiben, ein bisschen mehr Abstand als sonst halten.
Warum eignet sich die Methode "Philosophieren mit Kindern" hier so gut?
"Philosophieren mit Kindern" – oder auch "Nachdenken bzw. Querdenken mit Kindern" – ist eine Methode für Gespräche über Dinge, für die es keine einfache Lösung gibt, für sogenannte Dilemma-Situationen. Deshalb wird sie häufig in der Bildung für nachhaltige Entwicklung, kurz BNE, eingesetzt, wenn man beispielsweise über Gerechtigkeit oder Klimawandel spricht. Es geht darum, dass Kinder üben, die Perspektive zu wechseln. Man argumentiert nicht gegeneinander, sondern jede Perspektive darf formuliert werden und ist wertvoll. Erwachsene moderieren diese Gespräche nur. Sie können Impulsfragen stellen, halten sich aber mit ihrer eigenen Meinung zurück.
"Erwachsene haben oft das Gefühl, dass sie den Kindern die Welt erklären sollten. Das müssen sie aber gar nicht."
Mariel Wille
Nehmen wir mal ein Beispiel: Meine Eltern – und ich als Kind – tragen einen Mund-Nasen-Schutz an bestimmten Orten, andere aber nicht. Wie würde eine Pädagogin bzw. Pädagoge darüber mit Kindern ins Philosophieren kommen?
Ich würde den Kindern erst einmal Raum für Emotionen geben und dafür, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Man kann Fragen stellen wie "Wann tragt ihr eure Maske?" oder "Wie geht es euch dabei?". Von da aus würde ich zum übergeordneten Thema Regeln kommen und den Kindern gegenüber transparent machen, dass ich jetzt die Ebene wechsle, also sagen: "Wir sprechen jetzt nicht mehr nur über Corona." Impulsfragen dazu könnten sein: Warum gibt es Regeln? Welche Regeln kennt ihr? Welche Regeln findet ihr gut oder welche auch nicht? Wie wäre es, wenn es gar keine Regeln gäbe? Oder umgekehrt: Wenn es für alles Regeln gäbe? Könnt ihr euch vorstellen, warum sich manche Leute nicht an Regeln halten? Wichtig ist, dass es an dieser Stelle nicht nur in Kritik hagelt, sondern die Kinder die Perspektive wechseln und sich in andere Denkweisen hineinversetzen.
Gar nicht so einfach.
Stimmt. Das müssen die Kinder erst üben und ich als Pädagogin oder Pädagoge muss diese besondere Art der Gesprächsführung auch erst üben.
Was sind Themen, die die Kinder rund um die Corona-Pandemie beschäftigen?
Ich versuche mal, das in übergeordnete Themen zu fassen – wie man es auch beim Philosophieren machen würde. Über das Thema Regeln haben wir ja schon gesprochen. Freundschaft ist ein anderes Thema, das für Kinder oft relevant ist. Viele Kinder haben ihre Freunde über viele Wochen nicht gesehen. Wenn ich aber meine Freunde nicht sehe, sind das dann eigentlich noch meine Freunde? Was macht Freundschaft aus?
Dann natürlich wichtig: Gerechtigkeit und das Recht auf etwas haben. Vielleicht konnte ich in den Sommerferien wegen diverser Einschränkungen nicht wie geplant mit meiner Familie verreisen. Gibt es ein Recht auf Reisen? Und Krankheit und Tod sind natürlich auch Themen, mit denen sich Kinder unter diesen Umständen beschäftigen.
"Kinder, die regelmäßig philosophieren, sind geübt darin, über kritische Dinge nachzudenken."
Mariel Wille
Welche Vorteile haben Kinder langfristig durch das Philosophieren?
Kinder, die regelmäßig philosophieren, sind geübt darin, über kritische Dinge nachzudenken. Sie lernen damit auch analytisches Denken. Das kommt besonders Kindern aus sozialschwächeren Familien zugute, in denen Eltern vielleicht nicht so viel Zeit für ausführliche Gespräche haben. Die Kinder erleben, dass sich ein Erwachsener für ihre Meinung interessiert und ihnen zuhört.
Wie viel kann ich den Kindern zutrauen, zum Beispiel in der Kita?
Grundsätzlich ist die Methode eher etwas für Kinder ab dem Vorschulalter. Mit jüngeren Kindern kann man eher kürzere Gespräche führen, zum Beispiel beim Anziehen in der Umkleide. Was Themen angeht, so können wir Erwachsenen Kindern ruhig mehr zutrauen, als es oft der Fall ist. Wichtig ist, zu schauen, ob ein Thema gerade für die Kinder relevant ist. Ein anderer wichtiger Punkt ist, keine Horrorszenarien heraufzubeschwören. Das macht Kindern Angst und Angst lähmt – auch und gerade beim Lernen. Wenn man nicht sicher ist, wie viel ein Kind verträgt, kann man zwischendurch einfach mal fragen: "Möchtest du noch weiter mit mir darüber nachdenken?"
Wie kann ich mich als pädagogische Fach- oder Lehrkraft verhalten, wenn ich angesichts der aktuellen Situation selbst besorgt und unsicher bin.
Ich möchte an dieser Stelle dafür plädieren, dass Pädagoginnen und Pädagogen gute Selbstfürsorge betreiben. Man muss sich nicht immer allem aussetzen. Vielleicht kann ich gerade mit dem Thema Corona-Pandemie nicht umgehen, weil beispielsweise in meiner Familie jemand erkrankt ist. Dann kann ich den Kindern auch mal sagen: "Lasst uns doch zu einem anderen Zeitpunkt darüber sprechen." Oder wir suchen jemand anderen, der oder die mit den Kindern darüber spricht.
Kann ich Kindern über das Philosophieren Ängste nehmen?
Nein, man nimmt Kindern Ängste nicht, aber man kann sie in die Lage versetzen, mit schwierigen Situationen gut umzugehen. Das kommt dem eigentlich am nächsten.
Wo kann ich mehr erfahren?
Die Methode "Philosophieren mit Kindern" gehört zu den Inhalten, die in den Präsenzfortbildungen zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) vermittelt werden. Die Fortbildungen „TÜR AUF! Mein Einstieg in Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und „MACHT MIT! Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Praxis“ gibt es sowohl für pädagogische Fach- und Lehrkräfte als auch speziell für Kita-Leitungskräfte.
Fortbildungen in Ihrer Nähe finden Sie über unsere Website. Außerdem bietet die Stiftung auf ihrer Online-Lernplattform Campus regelmäßig Webinare zum "Philosophieren mit Kindern" an, die sehr beliebt sind.