Personalisiertes Lernen durch Künstliche Intelligenz

Die Expertin für Künstliche Intelligenz, Kenza Ait Si Abbou Lyadini, spricht über die Auswirkungen auf die Bildungslandschaft.
© Tom Maelsa / Stiftung Kinder forschen

Kenza Ait Si Abbou Lyadini ist Expertin für Robotik und Künstliche Intelligenz (KI). Im Interview verrät sie uns, welche vielfältigen Chancen KI-basierte Technologien im Bildungsbereich bieten und wieso lebenslanges Lernen unerlässlich geworden ist.

Auf Ihrer Website steht, dass man auf Algorithmen wunderbar tanzen kann. Welchen Tanzstil würden Sie dafür empfehlen?

Ich stelle mir das wie einen Tango vor, bei dem der Mensch die Rolle des Tänzers übernimmt und der Algorithmus die Rolle der Tänzerin. Beim Tango führt der Mann, während die Frau mit ihm tanzt. Ähnlich ist es in meiner Vorstellung mit Algorithmen: Wir geben ihnen Anweisungen, was sie tun sollen.

Sie arbeiten als Frau in einem von Männern dominierten Bereich. Was möchten Sie jungen Mädchen mit auf den Weg geben, die sich für Robotik oder Künstliche Intelligenz interessieren?

Dieser Bereich ist nicht nur interessant aufgrund der Vielfalt und Familienfreundlichkeit, sondern er bietet auch die Möglichkeit, die Zukunft mitzugestalten. Technologie verändert alles, was wir in unserem Leben kennen. Ich möchte nicht anderen Menschen die Entscheidung über meine Zukunft überlassen, sondern selbst daran mitwirken. Das wäre auch meine Botschaft an junge Mädchen: Sie können die Zukunft mitgestalten.

Welche ethischen Überlegungen sind wichtig, wenn wir Künstliche Intelligenz in der frühkindlichen Bildung einsetzen?

Die ethischen Aspekte müssen je nach Anwendungsfall berücksichtigt werden. Es ist schwierig, allgemeine Aussagen zu treffen. Wenn KI in der frühkindlichen Bildung eingesetzt wird, müssen wir die Chancen und Risiken sorgfältig abwägen und die Risiken minimieren. Hier ist ein Beispiel: Wenn Kameras in Klassenzimmern installiert werden, können wir sehen, ob Schülerinnen und Schüler konzentriert oder abgelenkt sind. Der positive Effekt besteht darin, dass wir auf die Kinder eingehen können. Vielleicht sind sie krank oder es ist zu Hause etwas vorgefallen. Die negative Seite ist jedoch die Überwachung der Kinder und das Eindringen in ihre Privatsphäre. Jeder darf mal abgelenkt sein, und das möchten wir nicht sekündlich dokumentiert haben. Deshalb muss man ethische Abwägungen immer im konkreten Kontext treffen.

Wie kann gewährleistet werden, dass durch KI-basierte Technologien die sozialen und emotionalen Fähigkeiten der Kinder nicht vernachlässigt werden?

Wenn wir davon ausgehen, dass es sinnvoll ist, dass Kinder lernen, mit dieser Technologie umzugehen, dann sollte der Einsatz frühzeitig beginnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die anderen Aspekte vernachlässigen sollten. In der Kita lernen Kinder, mit anderen Kindern umzugehen und stärken ihr soziales Verhalten. Das ist für mich der zentrale Mehrwert, wenn ich meine Kinder in die Kita schicke. Ich möchte, dass sie mit anderen Kindern spielen, verhandeln, diskutieren, weinen und zusammen lachen. Dieses soziale Verhalten ist wichtig und darf nicht vernachlässigt werden, nur weil es eine Technologie gibt, die beispielsweise das Erlernen von Farben in der Kita beschleunigt. Es geht um die richtige Balance.

Die Standardisierung in der Bildung ist nicht zukunftsfähig.

Kenza Ait Si Abbou Lyadini, Expertin für Künstliche Intelligenz

Wie können KI-basierte Technologien in Kitas und Grundschulen dazu beitragen, Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und -bedürfnissen besser zu unterstützen?

In diesem Zusammenhang spielt personalisiertes Lernen eine große Rolle. Der Unterricht ist heutzutage standardisiert. Alle Kinder erhalten dieselben Informationen im gleichen Tempo und müssen damit zurechtkommen. Einige Kinder sind schneller und langweilen sich, während andere langsamer sind und überfordert werden. Digitale Lösungen können dem entgegenwirken. Schnellere Kinder können zusätzliche Aufgaben erhalten, um Langeweile zu vermeiden, während für Kinder, die mehr Zeit benötigen, das Lerntempo angepasst werden kann. Aus meiner Sicht ist es sinnvoller, Unterschiede mithilfe technologischer Geräte auszugleichen, anstatt dass Lehrkräfte denselben Lehrplan im gleichen Tempo für alle durchsetzen müssen.

Sehen Sie noch weitere Vorteile?

Ja, definitiv. Wenn KI eingesetzt wird, sollten die Interessen der Kinder im Vordergrund stehen. Dadurch können die individuellen Stärken der Kinder besser erkannt werden. Ein Kind mag vielleicht beim Rechnen langsamer sein, aber es könnte musikalisch oder künstlerisch begabt sein. Eine Künstliche Intelligenz könnte das gut erkennen. Indem wir die individuellen Schwächen der Kinder verstehen, können wir gezielt darauf eingehen und sie in ihren Talenten fördern. Derzeit werden die Stärken der Kinder in der Schule oft nicht ausreichend betont, sondern eher geschwächt. Die Standardisierung in der Bildung ist nicht zukunftsfähig. Wer keine Besonderheiten hat, wird es in der Berufswelt schwer haben. Wir sollten uns viel stärker auf die Stärken jedes Einzelnen konzentrieren als zuvor.

Wie sehen Sie die Zukunft der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine im Bildungsbereich, und welche Auswirkungen hat dies auf die Art und Weise, wie wir lernen und uns bilden?

In der heutigen Ära des lebenslangen Lernens reicht es nicht mehr aus, sich allein auf den Wissensstand aus der Schulzeit oder der Ausbildung zu verlassen. Früher war es üblich, nach der Schule zu studieren oder eine Ausbildung abzuschließen und dann mit dem erworbenen Wissen für den Rest des Lebens zu arbeiten. Doch die Veränderungen in der Arbeitswelt haben sich beschleunigt, weshalb kontinuierliches Lernen unerlässlich geworden ist. Diese Veränderungen beeinflussen auch die Art und Weise, wie wir lernen. Früher mussten wir beispielsweise für eine Abschlussarbeit oder Promotion in die Bibliothek gehen. Heute sind die meisten Inhalte online verfügbar, und wir haben Zugriff auf weltweite Bibliotheken. Dadurch stehen uns unzählige Möglichkeiten und Informationen zur Verfügung, was es gleichzeitig schwieriger macht, relevante von irrelevanten Informationen zu unterscheiden und eigene Thesen zu entwickeln. Die Fähigkeit, sich auf relevante Informationen zu fokussieren und sich nicht in der Informationsflut zu verlieren, ist zu einer wichtigen Kompetenz geworden.

Portrait von Noel Balzer
Autor/in: Noel Balzer

Ich bin Referent für Presse, Public Affairs & Digitale Kommunikation. In der Schule habe ich mich oft gelangweilt. Heute weiß ich, dass das nicht sein muss. Die Arbeit in der Stiftung Kinder forschen ermöglicht es mir, zu einem besseren Bildungssystem beizutragen und Unterricht spannender zu gestalten. Das motiviert mich jeden Tag.

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