Lesen oder Forschen in der Grundschule? Beides!
Wenn sich die Grundschulen zunehmend auf das Lesen konzentrieren, darf das nicht auf Kosten des Sachunterrichts gehen. Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Kinder forschen fordert: Das entscheidende Wort in der Grundschule sollte "Und" sein.
Basale Kompetenzen fördern
Eine Untersuchung nach der anderen offenbart Lerndefizite schon in der Grundschule – beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Zur Lösung der Misere empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz, dass sich die Grundschulen auf diese "basalen Kompetenzen" konzentrieren sollen, also Lesen, Schreiben und Rechnen. Das hört sich zunächst logisch an. Ich fürchte allerdings, dass dies auf Kosten der Mint-Kompetenzen und des Sachunterrichts geht.
Natürlich darf es die Grundschule nicht zulassen, dass Kinder auf die weiterführende Schule wechseln, ohne lesen zu können. Mecklenburg-Vorpommern hat angekündigt, ab 2025 eine verpflichtende Leseübungszeit in der Grundschule einzuführen. In Rheinland-Pfalz wird schon ab 2024 eine zusätzliche Deutschstunde in der zweiten Klasse eingesetzt. Andere Länder haben ähnliche Pläne angekündigt.
Entweder Oder
Die Kehrseite: Für solche Vorhaben während der begrenzten Unterrichtszeit muss immer an anderer Stelle gekürzt werden. Das bedeutet, dass die Leseübungszeit zum Beispiel im Sachunterricht stattfinden soll oder Grundschulenglisch dafür gestrichen wird. Bayerns Kultusminister Michael Piazolo hat gesagt, man müsse sich auf das konzentrieren, was wichtig ist: "Alles kann man nicht tun." Mit anderen Worten, die Grundschule soll sich entscheiden: Lesen ODER Sachunterricht. Kopfrechnen ODER Englisch.
Als ehemaliger Grundschullehrer und Vorstand der größten Mint-Fortbildungsinitiative für Kita und Grundschule kann ich diesen Überlegungen nicht folgen. Wer hat denn gesagt, dass sich Schule für eines entscheiden muss? Die Zukunft des Grundschulunterrichts und die Bildungschancen der Kinder liegen nicht darin, einzelne Fächer gegeneinander auszuspielen, sondern diese zu kombinieren.
Lesen muss für Kinder Sinn ergeben
Die Neurowissenschaft legt nahe, dass gerade Lesen dann besser gelingt, wenn für die Lesenden eine "Sinnhaftigkeit" erkennbar ist. Anders gesagt: Mein Gehirn arbeitet aktiver und motivierter, wenn das, was ich lese, interessant und spannend ist. Beim Lesen-Können kommt es auf das Lesen-Wollen an. Daher könnten Lesen und MINT-Kompetenzen gut gemeinsam gefördert werden. Nicht "oder" sollte das entscheidende Wort in der Lösung der Grundschulmisere sein, sondern "und".
Es gibt genug MINT-Themen im Lehrplan, zu denen sich interessante Lesetexte schreiben lassen. Zum Thema "Wetter" bietet sich etwa eine Geschichte über das größte Hagelkorn der Welt an oder zum Mikrokosmos in einer Pfütze. Zum Thema "Bewegung" eine Anleitung zum Bau einer Kettenreaktionsmaschine. Optik, Essen, Bauen und Wohnen – die Lehrpläne der Grundschule sind voll mit Phänomenen, über die man sich die Welt erschließen kann. Texte dazu, etwa gebündelt in einem kindgerechten Magazin mit Begleitmaterial für die Lehrkräfte, machen Lust aufs Lesen, und das Lesen über MINT-Themen weckt Lust am Forschen. Ein entsprechendes Projekt betreiben wir seit drei Jahren mit der Stiftung Lesen. Die Finanzierung gestaltet sich aber schwierig.
MINT und Sprachförderung geht gut zusammen
Auch MINT und Sprachförderung lassen sich gut verbinden. Lernsituationen, in denen Kinder ihren eigenen Fragen an die Natur forschend nachgehen, eignen sich perfekt, um gleichzeitig Sprachgebrauch zu fördern. Etwa durch Beschreibung der eigenen Handlungsschritte und die Fragen, die dabei entstehen. Oder wie wir (gemeinsam mit dem Bundesverband für Logopädie) sagen: Wer forscht, der fragt, und wer fragt, der forscht.
Ich bin sicher: In der Verbindung von Fächern liegt der Schlüssel zu guter früher Bildung. Gerade in der Grundschule, wo alle Kinder eines Jahrgangs gemeinsam lernen und das Klassenlehrerprinzip fächerübergreifenden Unterricht vereinfacht, kann die Lösung nicht in einem "Oder" verschiedener Fächer und Disziplinen liegen. Es braucht das "Und".
Dieser Beitrag erschien erstmals in "Die Zeit" Nr. 42/2023 vom 5. Oktober 2023.